No Show
Distanz Verlag, 2019
The book is published on the occasion of the exhibition „No Show, Oliver Mark“ from 05.04.2019 to 02.06.2019 in the museums of the city of Bamberg, Villa Dessauer.
German, English
268 pages, 198 ills.
23,5 x 29 cm
ISBN 978–3‑95476–281‑1
Wer sind wir und wenn ja, wie viele? Was möchten wir sein, was macht uns aus, wie wollen wir gesehen werden? Oliver Mark ist ein Meister der Menschen-Fotografie. Seine Porträts erzählen Geschichten von Verfremdung, Überlagerung, Zersplitterung, Aufspaltung, Doppelung, Verschnürung, Verpackung, Schau-Spiel – und geben dabei oft mehr preis als gewollt, sowohl über den Porträtierten als auch den Fotografen. Die sorgfältig inszenierten Momentaufnahmen weisen als „social stills“ über sich hinaus: Sie analysieren den Menschen, sie verorten seine Rolle in der Gesellschaft, es sind Spiegelbilder. Oliver Mark ist ein Menschen-Sammler: Künstler, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Musiker, Philosophen, Politiker, Theater- und Filmregisseure, Schriftsteller, Modedesigner, Familienaufstellungen… Immer findet er den besonderen Moment, man spürt die Verbindung von Fotograf und Gegenüber. Konzentrierte Nähe wechselt sich ab mit fast bedeutungsüberladenen Inszenierungen und gewollt beiläufigen Bildern. Oliver Mark ist ein Rahmen-Künstler. Durch sein gesamtes fotografisches Werk zieht sich der Bilderrahmen als Motiv, als Stilmittel, als Spannungsgeber, als Begrenzung und Botschaft. Sei es das kunstvolle Stillleben der leeren Rahmen, die mit ihren schwarzen Flächen auf das titelgebende „Nicht-Erscheinen“ verweisen oder das Arrangement seiner Arbeiten in üppig vergoldeten Barock- oder antiken Ovalrahmen: Die dadurch erzeugte assoziative Nähe zur Altmeistermalerei – verstärkt durch das immer wiederkehrende Motiv der Hände oder durch Vanitas-Zitate im Bild – verfehlt ihre nobilitierende Wirkung nicht, gerade auch wenn sie wieder ironisch gebrochen wird. Oliver Mark ist ein Charakter-Sucher. Da, wo er fündig wird, wo er am meisten bei sich ist, am stärksten, am dichtesten, da wird ein Gesicht zum Antlitz, in dem sich unsere Zeit spiegelt. Mit Wucht trifft den Betrachter die Intimität des Moments und man ist froh, diesen Moment teilen zu dürfen. So bei Louise Bourgeois, die Oliver Mark 1996 als 85-jährige in New York fotografiert: Ihr Gesicht ist eine Landkarte ihres Lebens, jeder Kampf hat seine Spuren hinterlassen. Die Augen fast geschlossen, der Fokus liegt auf den Händen der großen Künstlerin, Ausdruck einer Epoche. Wir sehen einen „Menschen des 20. Jahrhunderts“.
Sowieso ist alles eine Frage des Lichts. Es fällt von links auf breiter Front in den großen Raum, der zugleich als Studio und Büro, und Galerie dient. Genaugenommen müsste ich sagen: Es würde fallen, denn der Fotograf, der mir barfuß in weißem T‑Shirt und verwaschen grauer Hose die Tür öffnet, hat vor den Fenstern im Mittelteil dichte, schwarze Vorhänge zugezogen. Nur vorne, im Bereich des Schreibtischs, gleich hinter dem Eingang, darf das Licht ungehindert hereinbrechen, dann erst wieder am Ende des Raums, wo die Sonne jetzt, am frühen Morgen, eine Gruppe von drei Eisbären aus Porzellan je nach Blickwinkel ironisch oder dramatisch in Szene setzt. Sie stehen auf einem Sockel vor der ebenfalls schwarz verhängten Rückwand und brüllen gemeinsam den Himmel an. Der Fotograf fragt, was er mir zu trinken anbieten darf? „Gern einen Espresso “, sage ich. Wenig später bringt er mir aus der Küche den Espresso in einem Mokkatässchen aus Meissner Porzellan. Ich kenne das Dekor, es heißt Reicher Hofdrache und wurde 1730 nach japanischen und chinesischen Vorbildern für die königliche Tafel August des Starken entworfen, bis 1918 war es ausschließlich dem Hof vorbehalten. Offenbar teilen wir die Liebe zum Porzellan – zu Figuren und Geschirr gleichermaßen. Ich kenne sonst niemanden, der sich dafür begeistern kann. Die Wand den Fenstern gegenüber ist bis unter die Decke mit Bildern gefüllt – hauptsächlich zeitgenössische Maler, die jedoch geradezu entgegengesetzten ästhetischen Position zu folgen scheinen: Gestische Abstraktion findet sich neben Figurativem, poetisch Surreales folgt auf collageartige Kompositionen. Dazwischen Fotografien, ein Barockportrait, sowie eine alte Madonnenfigur aus farbig gefasstem Holz. Auf dem Bord darunter Kleinplastiken und ein sauber präparierter Pferdeschädel. Fast der gesamte Boden im hinteren Teil wird von einem antiken Heriz Teppich in warmen Rot‑, Beige und Blautönen bedeckt, so dass ich mich endgültig wie zu Hause fühle. Er endet vor einem breiten Ledersofa, das zugleich als Andeutung eines Raumteilers dient. Hier und da ein antiker Stuhl oder Tisch, jedes Stück einem ebenso eigenwilligen wie undogmatischen Geschmack entsprechend ausgewählt.„Lass uns kein Gebrauchsportrait machen, sondern etwas anderes versuchen“, hatte ich dem Fotografen am Telefon gesagt. „Ist mir recht“, hatte er geantwortet. Ich bin in einem graugrünen Cordanzug gekommen und habe einen Rollkoffer voller Kleider mitgebracht: den Fez, den mir mein türkischer Sufi-Sheikh vor zehn Jahren aufgesetzt hat, dazu weite osmanische Hosen und das passende Hemd; Kurta Shalwar – die traditionelle pakistanische Kleidung –, mit buntem Schal und Turban; dann den Kimono, den ich bei der japanischen Teezeremonie trage. Außerdem habe ich einen pakistanischen Gebetsteppich, meinen Tesbih und den japanischen Fächer dabei. Der Fotograf reagiert nicht im Geringsten verwundert oder gar befremdet, als ich ihm zeige, was sich im Koffer befindet, im Gegenteil: Er scheint es völlig normal zu finden, dass jemand derlei Dinge für eine Portrait anschleppt, das keineswegs der Ankündigung eines Maskenballs oder einer Faschingssitzung dient, während ich mir in diesem Moment die Frage stelle, ob es Kostümierungen, Identitäten oder doch Versuchsanordnungen sind? Ich denke: Vielleicht macht er deshalb so gute Portraits, weil er sein Gegenüber nicht wertet, sondern einfach nur hinschaut, ruhig und aufmerksam, mit der melancholischen Distanz dessen, der schon viel gesehen hat. Der Fotograf sagt: „Ich nehme lieber Tageslicht – ohne Blitz“. Das hinwiederum erstaunt mich, ich hatte eher mit einer computergesteuerten Anlage aus hintereinandergeschalteten Blitzen und Reflektorschirmen gerechnet, mit der jede Sommersprosse auf meiner Nase porentief ausgeleuchtet worden wäre. Die Ruhe, mit der er den Grauverlauf auf einem großen Papierbogen für den Hintergrund ausrichtet, die Vorhänge ein Stückchen weiter zuzieht, damit das Licht den richtigen Weg nimmt, die Position der beiden Hocker festlegt – einen für mich und einen für sich –, das Stativ samt Kamera positioniert, überträgt sich auf mich. „Ich würde gern einfach mal den Fez mit dem Anzug probieren“, sage ich. „Es gibt ein Portrait des russisch-jüdischen Schriftstellers Essad Bey, der mit siebzehn zum Islam konvertiert ist, aus den 20er Jahren, da sitzt er genau so gekleidet im Café Kranzler, und es sieht irgendwie schräg aus.“ Der Fotografen nickt: „Finde ich gut“, sagt er. Der Grünton meines Anzug bildet mit dem dunklen Rot des Fez, dem hellblauen Hemd und der gestreiften Krawatte, einen schönen Klang. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, will er hauptsächlich Schwarzweißbilder machen.Draußen schieben sich Wolken vor die Sonne, mit einem Mal ist es einige Stufen dunkler im Raum, das Licht nicht mehr scharf sondern gestreut. Während ich erzähle, wie ich an die unterschiedlichen Kleidungsstücke gekommen bin, was sie für mich bedeuten, bei welchen Gelegenheiten ich sie benutze, ist der Fotograf damit beschäftigt, das Licht an dem Platz, auf dem ich sitzen soll, den veränderten Gegebenheiten am Himmel anzupassen. Jede Veränderung der Vorhangposition hat Auswirkungen auf den Hintergrund, auf die Schatten und Linien in meinem Gesicht. Ich lehne mich etwas vor, rücke ein Stück nach links. Alles, was er tut, wirkt seltsam beiläufig, hat nichts von der überspannten Erregung Hektik, die man in einem Fotostudio erwartet. Noch immerscheint es, als wäre das, worüber wir reden, das Eigentliche, und die Bilder, die gemacht werden sollen, stellten eher ein Nebenprodukt dar. Mein Blick bleibt an einem Louis XVI Sessel mit orangerotem Samt hängen, der in der hinteren Ecke steht, und den ich vor lauter Kunst übersehen hatte. Mir fällt das Foto von Essad Bey im Café Kranzler wieder ein: „Lass uns doch den nehmen, das wäre vielleicht lustig“, sage ich und deute auf den Sessel. Ich sehe im Gesicht, den Augen des Fotografen, wie er die Vorstellung von mir mit dem Fez im Anzug auf dem Sessel mit der Idee des Bildes in seinem Kopf vergleicht, sehe, wie sich Skepsis und Einverständnis abwechseln. Schließlich willigt er ein, und wir tauschen meinen Hocker gegen den Sessel aus. Ich sitze jetzt etwas niedriger als zuvor, so dass er Vorhang, Hintergrund und Stativ neu justieren muss. „Warte mal einen Moment“, sagt er und verschwindet in die Küche. Ich höre das Mahlwerk der Espressomaschine, dann das Brummen, während der Kaffee durchfließt. Mit einem anderen, offenkundig ebenfalls kostbaren Mokkatässchen in der Hand kehrt er zurück. Es hat eine hohe Biedermeierform, weiß mit senkrechten Goldstreifen und drei kleinen Löwenfüßen. „Du musst den Kaffee nicht trinken, aber vielleicht kannst du die Tasse vor der Brust halten“, sagt er. In diesem Moment bin ich ganz sicher, dass Essad Bey auf dem Foto auch eine Mokkatasse in der Hand hält – wenn nicht das gleiche Modell, dann zumindest ein sehr ähnliches.„Wo kommt das her – welche Manufaktur?“ frage ich. „KPM“, sagt der Photograph. „Das passt doch perfekt“, sage ich.„Kannst du die Tasse noch ein bisschen nach vorn neigen, dass man den Kaffee auch sieht? Und den Kopf ein klein wenig nach rechts.“ Sein Blick auf mich, mein Blick in die Kamera, an der Kamera vorbei, auf ihn, während der Verschluss klickt – wieder und wieder und wieder.Christoph Peters, No Show. Distanz Verlag, Berlin 2019.
Oliver Mark hat zwei Gründe genannt, warum er als Fotograf arbeitet: „Entweder fuer Bilder oder fuer ein Honorar.“ Mir scheint, hier fehlen einige wesentliche Dinge. Dazu gibt er ebenfalls bedenkenswerte Hinweise. Auf der einen Seite bringt es sein Beruf mit sich, Cate Blanchett in einem Moment abzulichten, wo sie scheinbar völlig entspannt in einem englischen Clubsessel mehr liegt als sitzt. Einfach wie hingegossen.Die Eleganz des Raumes hat gegen die Aura dieser Schauspielerin nicht den Hauch einer Chance und verblasst. Auf der anderen Seite weiß nur der Fotograf: er hatte nur einen Versuchbeziehungsweise drei Minuten, um das Bild zu machen. Dabei ist er immer auf der Suche nach einer perfekten Form, einem in sich ruhenden Ausdruck. Überlässt Mark alles dem Zufall? Er sagt, dass sei eher selten. „Aber wenn der Zufall dann da ist, kann es ein Feuerwerk sein.“ Das Gegenteil davon ist die Art und Weise wie etwa die Maler des Golden Zeitalters in den Niederlanden zu Werke gingen. Zum Beispiel bei einem Jan Vermeer. „Er drapierte einen Tischläufer auf den Tisch, ersetzte ihn durch das blaue Tuch. Er legte die Perlen in einer Reihe obenauf, arrangierte sie zu einem Häufchen, dann wieder zu einer Reihe. Er bat die Frau aufzustehen, sich hinzusetzen, sich anzulehnen, sich vorzubeugen.“ Tracy Chevalier lässt die junge Magd Griet in ihrem Buch Das Mädchen mit dem Perlenohrring (1999) in das Allerheiligste des Künstlers eindringen. Sie beobachtet im Atelier, wie der Maler sorgfältig Szene für Szene arrangiert. Und einmal wagt sie das Ungeheuerliche. Sie bringt – nicht nur aus ästhetischen Gründen – etwas Unordnung in das Arrangement ihres strengen Meisters. Ihr heimlicher Blick in die Camera obscura lässt den Leser überrascht zurück. Klingt, was die Schriftstellerin hier beschreibt, wirklich so anders als die Schilderung der Vorbereitung eines „shootings“ von Oliver Mark? „In der Regel habe ich die Aufnahme vor dem Shooting mit meinem Assistenten einmal komplett fotografiert. Da wird alles ausprobiert: Wie jemand stehen könnte, sitzen könnte, Schulter vor, wieder zurück, Kopf nach rechts, links, stopp, zu viel … Ich mache einen Lichttest, probiere herum. Diese Vorbereitung kann bis zu zwei Stunden dauern. Klingt nüchtern. Ist aber essenziell! Ohne Konzept wird es schwierig. Um zu improvisieren, um noch besser zu sein, brauche ich etwas, das ich verwerfen kann.“ Ein Fotograf muss schnell und genau sein. Er sollte flexibel sein und den Mut dazu haben Fehler zu machen. Bei aller Genauigkeit geht es um die Fähigkeit, im richtigen Moment einen wirklich originellen Einfall zu nutzen, der auch mal alles über den Haufen schmeißt. Das kann herrisch wirken oder göttlich. Der Mensch sei ein „animal rationale“ hat schon Martin Luther in seiner Genesisvorlesung formuliert. Manchmal reißt selbst der Geduldsfaden Gottes, falls es so etwas gibt. Am Ende der Sintflut aber wollte Gott die Erde nicht mehr verfluchen, obwohl das „Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf“ (1. Mose 8, 21a). Erst danach segnet Gott Noah und seine Söhne, auf dass sie fruchtbar seien und – vielleicht sollte man das noch hinzufügen – furchtbar: „Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel, über allem, was auf dem Erdboden wimmelt, und über allen Fischen im Meer, in eure Hände seien sie gegeben“ (1. Mose 9, 2). Der Mensch unterwirft sich die Welt, in der er lebt. Zuweilen redet er sie sich ohne jegliche Empathie schön. Leider! Es gilt als menschlich, wenn auch im biblischen Sinne verwerflich. Wie verhalte ich mich von Berufs wegen oder privat? Die Abgründigkeit unserer Spezies bleibt unbegreiflich. Die Skala reicht von ungeheurer Brutalität bis zu hingebungsvoller Zärtlichkeit. Zuweilen legen Menschen persönliche Bekenntnisse ab, die nicht zwingend religiös sein müssen. Manchmal sind sie es aber ausdrücklich wie bei dem Katholiken Harald Schmidt auf der Orgelempore des Kölner Doms, der unter anderem ausgebildeter Kirchenmusiker ist, oder dem Innenminister außer Dienst Thomas de Maizière, der als Protestant Jesuitenschüler war. Je mehr Gegensätze Oliver Mark ins Bild setzen kann, um so besser. Die erhöhte Spannung wird in der Bildfindung sichtbar. Die Sujets wechseln und überschneiden sich zuweilen auf ernste, oft auf komische Weise. Welche Heilige Messe im barocken Rahmen hält eigentlich Andreas Golder? Ist er Maler, Hoherpriester der Kunst oder beides? Es ist die Aufgabe eines Porträtfotografen, so viel wie möglich von den Untiefen eines Menschen sichtbar zu machen, ohne seine Aura zu beschädigen – immer wissend, dass er lediglich jemand ist, der im richtigen Moment den richtigen Ton findet, damit sich das jeweilige „Model“ wohl fühlen kann. Die richtige Ansprache zu finden ist also nicht nur für den Trainer einer Fußballmannschaft wichtig. Die Schatten vorteilhaft ins Licht zu setzen bleibt anspruchsvoll. Ob das bei Isa Melsheimer einfacher ist, weil sie dem Fotografen auch privat sehr nahe steht? Welche schöne Frau würde freiwillig auf einem kleinen Podest aus Teerpappe in welchem Berliner Bezirk auch immer vor bewölktem Himmel im schwarzen Sommerkleid mit goldenen High Heels stehen, um Supergirl zu lesen? Auf Melsheimer folgt Maximilian Jaenisch, hier ohne Augenlicht und mit doppelter Stirn, dann eine Madonna, so der Titel. Und ikonographisch gesehen ist es wohl tatsächlich die Gottesmutter mit Kind. Allerdings ist der Heiligenschein hier so vortrefflich ausgeprägt, dass selbst das Baby aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. Es scheint ein Goldregen niederzugehen auf das Jesuskind. Es ist kunstvoll eingewickelt in schwarzen Stoff. Sei es die Madonna und ihr Sohn oder Normalsterbliche, ein weiterer Grund warum Oliver Mark fotografiert, ist: er interessiert sich einfach für Menschen. Er ist maßlos neugierig. Und er agiert ohne Ansehen der Person. Er ist aufgeregt wie ein Jagdhund, der auf Beutezug geht. Er bewertet nichts, sondern er wertet die Person auf, die er ablichtet. „no show“ wirft einen anderen Blick auf Schauspieler und Künstlerinnen, auf Politiker, Musiker, auf jeden, der oder die Oliver Mark vor die Kamera bekommt. Dieser Vorgang hat etwas Egalitäres. Prominente kommen nicht in Paparazzi-Manier zu Fall wie der friedlich schlafende Will Smith etwa und ein weniger bekannter Künstler wird nicht gleich durch ein einziges Foto berühmt. Wir erfahren oft wenig. Warum hat der Berliner Künstler Saâdane Afif ein oder sein Zimmer vollgequalmt? Hat eine Nebelmaschine nachgeholfen? Wir sehen einen nachdenklichen Menschen, der auf einem Schafsfell sitzt. Oder sehen wir einen Mann in einer Landschaft im Morgennebel im Hochmoor? Was sagt das Bild über den französischen Objekt- und Installationskünstler aus? Oliver Mark löst die Rätsel, die uns seine Bilder aufgeben, nicht auf. Er lässt die Dinge bewusst offen, um der Betrachterin oder dem Betrachter Raum für eigene Assoziationen zu lassen. Wer die Bilder entschlüsseln mag, kann es versuchen. Ob es vollständig gelingt? Die Gedanken mögen da einsetzen, wo wir uns die Frage stellen, wie das jeweilige Bild entstanden ist? Oder? Was ist die Geschichte hinter der Geschichte jedes einzelnen Bildes? Mark scheut sich in diesem Buch nicht, dem Porträt des angesagten Philosophen und Kulturkritikers Slavoj Žižek einige schwarze Kreise hinzuzufügen und mit vielen kleinen Punkten den Himmel zu bedecken. Deswegen gilt er nicht gleich als ein französischer Pointillist. Aber er sprengt deutlich das Normalmaß dessen, was gemeinhin von einem Fotografen verlangt wird. Der Komponist Dirk von Lowtzow, Sänger und Gitarrist bei der deutschen Rockband Tocotronic, wusste vermutlich nicht, dass am Ende von ihm nur ein Kontaktabzug der Firma Kodak übrig bleiben würde, die selber mittlerweile bereits Geschichte ist. Mark reiht den Musiker geschickt ein in die Reihe einer anderen Geschichte, nämlich die der Rockmusiker. Dass das Vergangene immer neu erzählt werden muss, darüber hat schon Oscar Wilde in seinem Text Der Künstler nachgedacht: „Eines Abends trat in seine Seele das Verlangen, ein Bildnis zu machen: »Die Lust des Augenblicks«. Und er ging in die Welt, nach Bronze zu suchen. Denn er konnte nur in Bronze denken.“ Der Bildhauer macht sich auf die Suche. Aber es war keine Bronze zu finden außer das Porträt auf dem Grab eines Freundes. Es sollte ein Symbol nie endender Menschenliebe sein und einer Menschensorge dienen, die ebenfalls nie endet. Der kurze Text schließt so: „Und er nahm das Bildnis, das er gemacht hatte, setzte es in einen großen Tiegel und gab es dem Feuer.“ Jetzt kann etwas Neues entstehen. Mark denkt nicht in Bronze, sondern ist äußerst wendig. Im Übrigen gehören Bronzen mehr oder weniger der Vergangenheit an. Selbst Kanzlerinnen oder Bundespräsidenten sind auf Leinwand umgestiegen und lassen sich am Ende ihrer Tätigkeit malen. Zu Beginn ihrer Amtszeit wird immer ein offizielles Foto angefertigt. Im Fall des Staatsoberhauptes landet es dann in allen Amtsstuben der Republik und in den ausländischen Botschaften. Diese Bilder sind meistens langweilig, weil sie bestimmte Vorgaben erfüllen müssen. Deshalb hat es Marks Bild von Bundespräsident Joachim Gauck im Rosengarten in kein offizielles Gefilde geschafft. Das gilt auch für das Doppelporträt des Schauspielers Lars Eidinger. Es ist sehr viel aufregender als offizielle Theaterfotos. Wird hier nur der Schatten seiner Person gezeigt? Links der Mensch, rechts die Maske, die Rolle, das Amt, kurz: die persona. Hier kommt die antike Vorstellung dieses Wortes zum Ausdruck. Alle Menschen haben einen bestimmten Charakter, der nicht immer mit dem Amt, das er oder sie innehat, gleichzusetzen ist. Jürgen Becker dichtete einmal: „Nachmittags hat mir zerkratzt / ein alter Ast die Stirn die Augenhaut / Es hat seit den Frösten nicht so geblitzt / bis in das Verlassensein den ziehenden Abend.“ Schauen wir auf eines der Selbstportraits von Oliver Mark, wo er sich mit der Künstlerin Birgit Dieker abbildet. Der Fotograf bleibt unter der zerkratzen Maske verborgen. Ein ungewöhnliches Bild, das uns zeigt, der Fotograf ist so oder so anwesend, auch wenn wir ihn nicht sehen. Wir könnten auch sagen, Gott ist so oder so anwesend, auch wenn wir ihn nicht sehen. Beide sind Schöpfer schöner Dinge. Beide schaffen den Menschen immer wieder neu, zeigen ihn von seiner besten Seite. Hier kommt ein Konkurrenzverhältnis zum Vorschein zwischen Gott und dem Künstler, das sich bis heute fortschreibt. Wie tragisch die Geschichte verlaufen kann, wenn ein bedeutender Künstler in einem Porträt die tatsächliche Schönheit eines Menschen abbildet, ist in Oscar Wildes einzigem Roman nachzulesen: Das Bildnis des Dorian Gray. Manchmal mutet der Reigen dieser Porträts an wie der Film Die fabelhafte Welt der Amélie (2001).Es begegnen uns bekannte und unbekannte Gestalten, die mit Mitteln der Ironie (die Stiefel von Oliver Mark), der Verfremdung (die Päpstin), der Überhöhung (Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg), des Understatements (Mia Farrow), der Übermalung (Marcel von Eden und Matthias Brandt), des Zitats (Otto von Habsburg auf dem fliegenden Teppich) ins Bild gesetzt werden. Im Film trifft Amélie immer wieder auf Nino Quincampoix, einen Sammler von weggeworfenen Bildern aus Fotoautomaten. Als Amélie das Album findet, das er verloren hat, erkennt sie in ihm einen Seelenverwandten und verliebt sich in ihn. Möchte man sich in den einen oder die andere der Porträtierten verlieben? Etwa in Max Raabe oder Marilyn Manson, die auf einem Bild erscheinen, obwohl der Stil ihrer Musik Welten auseinanderliegt? Oder sollen wir die Musikerin Rita Ora anbeten, deren Abbild Mark zerschneidet wie Lucio Fontana einst seine Schnittbilder? In welche Welt will uns der Fotograf entführen? Er dringt ein in Hotels, Ateliers, auf Bühnen, in Königspaläste und politische Areale, sogar in das Haus eines russischen Oligarchen, alle so gut gesichert wie die neue Zentrale des deutschen Geheimdienstes auf der Chausseestraße in Berlin. Was das Büro kleihues + kleihues entworfen hat, wird im Netz so dargeboten, dass sicher niemand daraus schlau wird. Alles sieht irgendwie immer gleich aus. Oliver Mark macht in seiner Kunst das Gegenteil. Bei ihm ist alles auf erfrischende Weise immer wieder neu. Warum? Weil wir Menschen eben noch viel geheimnisvoller sind als jeder BND und jeder andere Geheimdienst. Das gilt insbesondere für Menschen, die Kraft ihres Amtes unendlich oft fotografiert werden. Man glaubt, man kenne sie, so das Credo der Regenbogenpresse. Mark überrascht uns gerne auch sublim, insbesondere in der Folge seiner Bilder. Frau Merkels Raute geht seinem Kreuzes-Entwurf voraus, aus dessen Mitte die Hände sich öffnen. Dem Porträt des Künstlers Jonathan Meese mit Napoleonhut folgen die Hände von Papst Benedikt XVI. Sein Gesicht wird erst gar nicht gezeigt, weil es ohne Zweifel schon zu oft veröffentlicht wurde. Wir erkennen ihn an seinem Fischerring an der rechten Hand, der bis heute nicht zerstört wurde, was sonst die Regel wäre. Die Rechte erscheint erdenschwer und weist auf der Höhe der weißen Schärpe nach unten, während die Linke frei schwebend Erklärungen abgibt. Das sollte jeder Papst können, selbst wenn die Botschaft nicht immer leichte Kost ist. Darauf weist die Linke auch hin, denn Daumen und Zeigefinger scheinen das Pektorale, das Brustkreuz, fast zu berühren. Im nächsten Bild greift Oliver Mark eine Komposition von Helmut Newton auf und erweitert sie. Mark hat ein Gemälde von Ernie Luley Superstar aus seiner Sammlung eingefügt: die Päpstin. Wir sehen eine Frau von hinten, die ein weißes Pilleolum trägt. Das Model bleibt anonym und trägt einen teuren Nerz und High Heels. Es folgt ein Bruch. Wir sehen, wie Maskierte eine alte Fabrik oberhalb vom Prenzlauer Berg besetzen. Im Atelier sind keine Arbeiter mehr zu sehen, sondern Künstler. Ist die Beuyssche Rechnung Kunst = Kapital aufgegangen? Peter Weibel hat längst nachgewiesen, dass sowohl die Beuyssche Theorie als auch die des neokonservativen Ökonomen GaryBecker, in seinem Buch Human Capital(1964), mit der Theorie vom menschlichen Kapital fehl ging. Danach sei jedes Individuum sein eigener Produzent. Nach Weibel wurde der Mensch in beiden Fällen zum Kapital.[1] Wenn auch das Kapital mehr und mehr die wichtigsten Koordinaten unseres politischen System zu sein scheinen, so bleiben Künstlerinnen und Künstler und deren Kunst immer auch der notwendige Sand im Getriebe. So jedenfalls verstehe ich die Bilder von Mark. Eco´s Bett mit Kreuzworträtsel, Buch und Arbeitstasche macht die Literatur stark und ruft uns Das offene Kunstwerk (1962) oder seine Einführung in die Semiotik (1968) und seine Romane in Erinnerung. Eco selber taucht nicht auf. Das Kunstwerk überlebt seinen Schöpfer. Bei den Dosen und Bechern, die die Zuschauer auf den Absperrgittern abgelegt haben, ist es anders. Sie überleben nicht. Sie werden bald abgeräumt. Noch bilden sie einen schönen Kontrast zum eleganten Schriftzug am Hause des Juweliers Cartier in Paris. Und sie geben der Luxusmarke einen Touch von Underground. Auf den ersten Blick könnte hier eine Party stattgefunden haben. Der rote Teppich wurde schon eingerollt. Die einzelnen Gäste mussten gar nicht mit aufs Bild. Die Dekadenz des Abends scheint so oder so in der Luft zu liegen. Damit spielt der Fotograf. Aber – der Empfang hat gar nicht stattgefunden. Es sind die Überreste der Zaungäste der Tour de France 2007. Selbst wenn Oliver Mark uns nur banale Gegenstände zeigt, stellt uns der Fotograf den ganzen Menschen vor Augen. Damit unterläuft er das Prinzip der Porträtfotografie, was insbesondere für Künstler, Philosophen, Schauspieler und Musiker ausgesprochen gut funktioniert. Um die Begierden der Fans zu befeuern geben sich Diven gerne den Hauch des Unnahbaren. Es kann auch ein Schutzschild sein, um sich ein wenig Privatsphäre zu bewahren. Bei Mark wird der Schleier dieser Unnahbarkeit selbst bei Aktbildern nicht gelüftet. Das Ferne liegt Oliver Mark nicht selten nah. Cameron Carpenter fotografiert er nicht an seiner berühmten Orgel, während er genialisch die Tasten schlägt und seine Füße auf den Pedalen tanzen. Mark bittet seinen Personal Trainer sich nackt auf das Genie in Frack und Fliege zu legen. Beide liegen am Boden. Auf einem weitern Bild liegt Carpenter selber nackt auf dem Sofa. Ein Glas Milch sorgt dafür, dass wir sein Gemächte nicht sehen. Mark erzählt gerne von den Einfällen während des Shootings. In beiden Aufnahmen sorgt ein blaues Schafsfell für ein irrwitzig manieristisches Bild. Der Fotograf sitzt oft zwischen zwei Stühlen. Einerseits kommt er den Aufträgen seiner Kunden nach, andererseits liebt er seine künstlerische Freiheit und bleibt ihr treu. Markus Lüpertz hat diese Spannung einmal so beschrieben: „Die Auftraggeber können sagen: Mach eine Kreuzigung, aber wie ich sie darstelle, ist meine Geschichte. Ich bin in diesem Moment nicht Gottes Erfüllungsgehilfe. Da bin ich – bei aller Gottgläubigkeit – gottlos, weil über Gott noch das Genie steht, der Künstler.“ Solche dandyhaften Sätze hatte Emil Schumacher als Mitglied des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste nicht nötig. Seinen Kampf als Maler des Informel führt er völlig souverän mit seinen langen schwarzen Pinseln bis in alle Ewigkeit weiter. Es bleiben viele Fragen. Es ist ein Fest für unsere Synapsen und Neurotransmitter. Stumm bleiben die Bilder für alle, die keine Sinne haben für Abgründe und schwarzen Humor, für Schicksal und Menschliches beziehungsweise Allzumenschliches, für Übermut und das Dionysische, das in den Künsten weiterlebt. Warum weint der Künstler Via Lewandowsky? Haben wir Dieter Hallervorden jemals so verletzlich und majestätisch zugleich gesehen? Vermutlich nicht. Mark bleibt empathisch und hintergründig. Den deutschen Autor und Regisseur Thomas Harlan zeigt er uns im Rollstuhl in seiner Heimat im Berchtesgadener Land. Mia Farrow trägt ein Holzkreuz und erinnert mehr an eine schwäbische Hausfrau als an eine Schauspielerin aus dem Film Midsummer Night’s Sex Comedy von Woody Allen. Sie wirkt hier sehr nachdenklich und nicht so glücklich wie bei der Pulitzer Preis-Verleihung 2018. Zitiert das Bild vom Künstler Wolfgang Lugmair den berühmten Siebdruck von Andy Warhol Gold Marilyn Monroe[2], die berühmteste Ikone der amerikanischen Popkultur einer melancholischen Diva? Muss man dem armen Ralf Ziervogel wirklich einen Ziervogel vom Weihnachtsbaum an die Nase klemmen? Die Antwort von Oliver Mark lautet schlichtweg: „Ja!“
Liechtensteinisches Landesmuseum, 2018
Ed. Rainer Vollkommer, Liechtensteinisches Landesmuseum. Text: Prof. Dr. Rainer Vollkommer, Dr. Constantin-Emil Ursu, Pr. Teodor Bradatanu. Design by Anja Steinig, studiof.de.
German, English, Romanian
112 pages, 3 covers.
Softcover
21,6 × 25,6 cm
ISBN 978–3‑9524770–3‑8