Natura Morta

Von Schönheit und Tod
Julia M. Nauhaus

In der Hierarchie der Gattungen nahm das Stillleben den niedrigsten Rang ein, da die gemalten Gegenstände als wert- und geistlos angesehen wurden und das „Abmalen“ derselben als „imitatio“, also Nachahmung, niedriger geachtet wurde als beispielsweise die „inventio“ (Erfindung) der Historienmalerei.

Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts entwickelte sich das Stillleben jedoch in Italien, den Niederlanden, Spanien und Deutschland als eigenständige Gattung. Neben dem Interesse für alltägliche Gegenstände enthielten die Stillleben oft eine moralische Botschaft, warnten vor Völlerei und Wollust. Das Vanitas-Stillleben und das Trompel’Œil („Augentäuschung“), in dem der Ursprung der Stilllebenmalerei liegt, waren besonders beliebt. Aber die Gattung forderte die Künstler immer wieder auch zu Meisterleistungen heraus, denn: „Im Stilleben unterwarf sich das einfachste Sujet am stärksten den Intentionen des Künstlers. Da es, als inhaltlich leer empfunden, kein Bild legitimierte, hatte der Maler durch ein Mehr an künstlerischem Gewicht daraus überhaupt erst ein Bild zu machen, das Bestand in der Kunst hatte.“ ¹

In der holländischen und flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts erlebte die Stilllebenmalerei eine ungeheure Blütezeit. Die Maler spezialisierten sich auf Tier- und Jagdstillleben, Blumen und Früchtestücke,
Bücher- oder Raucherstillleben. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts malten Frans Snyders, Jan de Heem oder Willem Kalf Prunkstillleben mit kostbaren Goldtellern, chinesischem Porzellan und exotischen Früchten.
Sie konnten die Haptik von Früchten oder das Gefieder von Vögeln ebenso perfekt wiedergeben wie die von Gold, Porzellan oder Glas. Bestimmte Untergattungen der Stilllebenmalerei konzentrierten sich sogar auf einzelne Städte.

Das Malen von Stillleben setzt die Fertigkeit voraus, „stofflich adäquat mit treffendem Kolorit Gegenstände in Raum und Licht so darzustellen, daß sie taktil überzeugen“ ². Für die Raumdarstellung gaben Giotto
und weitere Sieneser Maler wichtige Impulse, in der Buchmalerei um 1410 und in der Ölmalerei der Brüder van Eyck wurde die perspektivische Raumdarstellung seit den 1420er Jahren perfektioniert. Auf den Gemälden der Altniederländer sind Vorläufer von eigenständigen Stillleben zu finden, so beispielsweise bei Hans Memling (1430–1494). Auf der Außenseite einer Tafel, die zu einem Diptychongehörte und innen einen betenden jungen Mann vor einem Madonnenbild zeigt, ist ein Tisch zu sehen, der von einem orientalischen Teppich bedeckt ist. Auf ihm stehen Akelei, Iris und weiße Lilie in einem Majolika-Krug. Die Blumen verweisen auf Reinheit, Verkündigung und Schmerz Mariens; der religiöse Bezug ist evident. Der Auftraggeber oder Käufer des Tafelbildes konnte sich jedoch im geschlossenen Zustand des Diptychons an einem detailliert und meisterhaft gemalten Blumenstrauß erfreuen.

Zu den frühen Meisterwerken der Gattung zählt Caravaggios (1571–1610) Fruchtkorb, der kurz vor 1600 in Rom gemalt wurde und sich heute in der Pinacoteca Ambrosiana in Mailand befindet. Der Künstler schließt jegliche Hinweise auf die Tiefe des Raumes so weit wie möglich aus. Der Hintergrund ist leer, während die Früchte im Korb mit größter Präzision gemalt sind. Der Blickpunkt ist niedrig, auf der Tischebene, angesetzt, was dazu führt, dass unklar ist, wie tief der Tisch (geschweige denn der Raum dahinter) ist. Die Früchte entbehren des Volumens, die Blätter wirken fast schablonenhaft.³ Auch bei den inszenierten Stillleben von Oliver Mark bleibt der Betrachter im Unklaren über den Raum. Die holländischen Maler hoben in anderer Weise Raum und Zeit auf, indem sie Luxusgegenstände, die aus den Kolonien und damit weit entfernten Gegenden importiert wurden, gemeinsam auf Tischen drapierten oder prachtvolle Stillleben aus Blumen komponierten, die in der Natur nie zur selben Zeit blühen.


Die Faszination, die von Stillleben ausging und ausgeht, liegt auch darin begründet, dass die dargestellten Gegenstände dem Betrachter vertraut sind und sein Augenmerk auf die Malerei selbst gelenkt wird. Der Schweizer Heinrich Meyer, ein Freund Johann Wolfgang von Goethes, schrieb 1798 in Über die Gegenstände der bildenden Kunst: „Wir sehen die Kunst und den Künstler, nicht aber die vorgestellte Sache.“⁴ Andererseits kann ein Stillleben aber auch den Blick auf oft übersehene Alltagsgegenstände lenken, indem diese separiert auf einem Tisch oder in einer Nische erscheinen. Dies verdeutlichen etwa die Stillleben der spanischen Maler Juan Sánchez Cotán (1560 –1627) und Francisco de Zurbarán (1598 –1664). Die Malerei des Stilllebens spielt von Beginn an mit der Augentäuschung des Betrachters. Immer wieder wurde in der Kunstliteratur auf die Geschichte vom Wettkampf der antiken Maler Zeuxis und Parrhasios hingewiesen, die Plinius in seiner Naturalis Historia über liefert. So habe der Athener Maler Zeuxis Weintrauben so naturgetreu gemalt, dass die Vögel an ihnen picken wollten. „Parrhasios aber hatte einen so naturgetreu gemalten leinenen Vorhang aufgestellt, daß der auf das Urteil stolze Zeuxis verlangte, man sollte doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild zeigen; als er seinen Irrtum einsah, habe er ihmin aufrichtiger Beschämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen können.“5

Das Moment der Täuschung und der Entlarvung der Täuschung durch den Betrachter erscheint mir auch ein Moment in Oliver Marks Photographien: Nicht immer ist dem Betrachter sofort klar, worum es sich handelt, da die photographierten „Gegenstände“, Pflanzen oder Tiere, losgelöst aus einem räumlichen und inhaltlich erklärenden Kontext erscheinen. Auch Oliver Mark spielt mit dem Vertrauten und dem Unvertrauten, mit den Gegensätzen von lebendig und tot. Er wählt hierzu vorwiegend getötete Tiere oder die Produkte, die aus ihnen hergestellt wurden.„Von Schönheit und Tod“ betitelte die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 2011 eine Ausstellung, die erstmals überhaupt die Gattung des Tierstilllebens in den Blick nahm und 125 Meisterwerke von der Renaissance bis in die Moderne, von Albrecht Dürer bis zu einer Photographie von Robert Mapplethorpe präsentierte. Nicht immer ist bei Oliver Mark auf den ersten Blick auszumachen, ob die Tiere tatsächlich tot sind (vgl. Natura Morta #25 oder #48).

Der Künstler inszeniert sie, als ob sie lebendig wären, und täuscht den Betrachter, ähnlich wie dies die holländischen Trompel’Œil Maler mit auf Bretterwände gemalten Jagdgegenständen und der getöteten Jagdbeute taten. Ein Beispiel findet sich in der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien in Philips Angels (ca. 1616 –1683) Stillleben mit Jagdgeräten. Somit kommen wir zu einer Untergattung des Stilllebens, die direkt mit Oliver Marks Photographien in Zusammenhang steht: den Jagdstillleben, deren Grenzengegenüber den Tierstücken fließend sind. In den Jagdstillleben sind neben den (getöteten) Tieren oft auch Jagdgeräte wie Pulvertaschen
zu sehen. Jagdmotive stehen im 17. Jahrhundert immer noch in engem Kontext des höfischen Umfelds. Die Jagd galt von alters her als Privileg des Feudaladels, Jagdtrophäen wurden in Landsitzen und
Schlössern präsentiert, aber auch gemalt. Lediglich Vogel- und Kleinwildjagd wurden auch den unteren Schichten zugestanden und etablierten sich beispielsweise in den nördlichen Niederlanden als beliebtes Freizeitvergnügen. Heutzutage mag insbesondere die Großwildjagd zum Freizeitvergnügen einer reichen Schicht von Amerikanern, Russen oder Arabern gehören, doch kann sie auch zur Abdankung von Königen führen, wie im Fall von Juan Carlos I. von Spanien: Das Bekanntwerden seiner Teilnahme an einer Luxussafari in Botswana während der Rezession des Landes und die Tötung eines Elefantenbullen führten unter anderem dazu, dass Juan Carlos das Vertrauen des Volkes verlor und sein Sohn Felipe 2014 die Krone übernahm.

Bei einem auf Jagdstillleben spezialisierten Maler wie Jan Weenix (1642–1719) spielt aber zugleich die sinnliche Verführung des Betrachters durch die Malerei eine große Rolle und damit wiederum die Augentäuschung. Der Maler gibt Gefieder oder Hasenfell mit größter Genauigkeit wieder, der Betrachter möchte das weiche, schimmernde Fell berühren. Für jedes „Material“ wird ein individueller Pinselstrich verwendet. Die Malerei ist Zeugnis der Meisterschaft des Künstlers. Neben dem ästhetischen Genuss der exakt komponierten Jagdstillleben, in denen die Tiere oft in unnatürlichen Posen dargestellt und drapiert sind, darf eines nicht vergessen werden: Die Tiere sind Opfer menschlicher Gewalt. Und hier ergibt sich die Nähe zu den Photographien von Oliver Mark. Neben dem oberflächlichen Genuss an der Ästhetik, der ungewöhnlichen Präsentation und Beleuchtung und der Inszenierung als Natura Morta fehlt auf den Photographien Oliver Marks der direkte Hinweis auf das Tun des Menschen (die Jagdwaffen sind nicht zu sehen). Dennoch ist offensichtlich, dass die Tiere getötet wurden, um aus ihnen (Luxus-)Produkte herzustellen. Diese wiederum erinnern nicht nur an Tod und Vergänglichkeit wie die Vanitas-Stillleben in der Malerei, sondern vermögen auch das Nachdenken über Eitelkeit oder Profitgier des Menschen anzuregen. Andere Photographien erinnern entfernt an Stillleben mit Kuriositäten und kostbaren Gegenständen.

Oliver Mark inszeniert nicht nur die Gegenstände, die sich in der Asservatenkammer des deutschen Zolls angesammelt haben, sondern er inszeniert seine Photographien, indem er sie in historische Gemälderahmen setzt. Auf diese Weise stellt der Photograph selbst die Verbindung zur Stilllebenmalerei her – anders als sein Kollege, der in Australien lebende Kevin Best, der Stillleben im Stil der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts zusammenstellt und sie dann photographiert. Er will den Betrachter verwirren: Handelt es sich um eine Photographie, um ein Gemälde oder die Photographie eines Gemäldes? Anders Oliver Mark, der mit seinen ästhetisch inszenierten Stillleben den Betrachter dazu anregt, nicht über die Kunst allein, über Photographie und Malerei, nachzudenken, sondern über den Menschen an sich und dessen Tun, die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten, die Tötung von Tieren, um sie zu Luxusgütern oder „Arzneien“ zu verarbeiten. In diesem Sinne passen Oliver Marks Photographien in eine Gemäldesammlung, die dank ihres reichen Bestandes an holländischer und flämischer Malerei Tierstücke und Stillleben einer Reihe von berühmten Malern des 17. Jahrhunderts aufweisen kann – so Werke von Abraham van Beyeren, Willem van Aelst, Jan Fyt, Jan van der Heyden, Jan Davidsz. de Heem, Samuel van Hoogstraten und Peter Paul Rubens. Die Gegenüberstellung mit den Photographien von Oliver Mark eröffnet eine neue Sicht auf die „alten Meister“.

Eberhard König: Stilleben zwischen Begriff und Wirklichkeit. In: Stilleben. Hrsg. von Eberhard König und Christiane Schön. Berlin 1996, S. 13–92, hier S. 65. ² Ebd., S. 49.
³ Vgl. hierzu ausführlich Norman Bryson: Stillleben. Das Übersehene in der Malerei. München 2003, S. 83–88. ⁴ Zitiert nach Eberhard König, wie Anm. 1, S. 64.
⁵ Zitiert nach Eberhard König und Christiane Schön (Hrsg.): Stillleben. München 2003, S. 10